08.06.2022 – Kategorie: Geschäftsstrategie

Zerspanungsstrategie: Wie neue Produktionsprozesse perfekt geplant werden

ZerspanungsstrategieQuelle: GEMÜ

Die GEMÜ Gebr. Müller Apparatebau GmbH, Hersteller von Ventil-, Mess- und Regel­systemen für Flüssigkeiten, Dämpfe und Gase, hat die Produktion einer neuen Absperrklappe ins eigene Unternehmen geholt. Ziel war es, so viel technische Kompetenz wie möglich intern zu behalten. Außerdem sollten Konstruktions- und Produktionsverbesserungen das Alleinstellungsmerkmal des Produktes im Markt gewährleisten.

Matthias Kerl, bei GEMÜ Process Manager im Bereich Production & Logistic, erklärt: „Wenn wir unsere Partner von Boie und Walter kontaktieren, geht es üblicherweise um Prozessoptimierung und Prozesssicherheit, Sonderwerkzeuge, neue Fertigungsstrategien und Abstimmungen mit nachgelagerten Prozessen. Diesmal war es anders: Eine Zerspanungsstrategie musste komplett neu konzipiert und eingefahren werden – hier in Deutschland für unsere Produktion in Shanghai.“

Neue Zerspanungsstrategie als Alleinstellungsmerkmal

Die Aufgabe ergab sich aus der strategischen Entscheidung, die Produktion der Absperrklappe R480 Victoria ins eigene Haus zu holen. GEMÜ setzt damit auch bei diesem Typus der weichdichtenden zentrischen Absperrklappe seinen Anspruch um, so viel technische Kompetenz wie möglich im Unternehmen zu halten. Skalierbarkeit und Qualitätsmanagement waren für die Entscheidung genauso ausschlaggebend wie der Plan, dem Produkt durch Konstruktions- und Produktionsverbesserungen ein Alleinstellungsmerkmal im Markt zu sichern. „Mit dem Produktions-Know-how im eigenen Haus können wir unsere sehr hohen Ansprüche an die Qualität unserer Produkte zuverlässig umsetzen. So lassen sich selbst bewährte Konstruktionen wie die R480 Absperrklappe durch technische Veränderungen noch deutlich optimieren. Das ist der Mehrwert, den unsere Kunden von einem Produkt der GEMÜ erwarten“, so Matthias Kerl.

Zerspanungsstrategie
Das Walter Technology Center in Tübingen bietet eine technische Infrastruktur, mit der sich alle Schritte bei der Entwicklung einer Zerspanungsstrategie abbilden lassen. Bild: Walter AG

Komplexe Aufgabenstellung

Die Körper der neuen R480-Klappen werden aus Gussrohlingen gefertigt. Zum ungewohnten Werkstoff kommt die anspruchsvolle Bearbeitung dazu: Das Optimierungsziel für die R480 waren vor allem exakte Form- und Lagetoleranzen. Diese lassen sich nur dann wirtschaftlich erreichen, wenn das Werkstück in einer Aufspannung mit so wenig Werkzeugwechsel wie möglich zerspant wird. Dafür schien die angepeilte Geometrie des Bauteils zu komplex. Für die Produktionsplaner von GEMÜ war schnell klar, dass die anstehende Entwicklung, Planung und das Testen des neuen Produktionsprozesses für das Werk in Shanghai nicht nur mit den unternehmensinternen Ressourcen zu stemmen sein würden. Sie holten sich einen langjährigen bekannten Partner zur Unterstützung dazu.

Verlässliche Partner an der Seite für die neue Zerspanungsstrategie

Die Boie GmbH hat sich auf den technischen Großhandel für Maschinenbau, Metallbearbeitung und Instandhaltung fokussiert und gehört zu den größten technischen Handelsunternehmen in Baden-Württemberg. GEMÜ bezieht von Boie nicht nur Zerspanungswerkzeuge und technische Produkte. Als Systemanbieter unterstützt Boie den langjährigen Kunden auch bei komplexen Beschaffungs- und Service-Herausforderungen.

Eren Yoleri, Anwendungstechniker bei Boie, berichtet: „Bei der ersten Anfrage für dieses Projekt ging es zunächst nur um den Leistungsbedarf für die neue Zerspanungsmaschine in Shanghai. Wir haben dann das Anforderungsprofil für den kompletten Prozess vom Rohteil zum fertigen Teil aufgenommen, das Projekt definiert und unseren Zerspanungswerkzeug-Partner Walter mit ins Boot geholt. Denn uns war klar, dass sich die Kosten- und Qualitätsvorgaben des Kunden nur mit einer Gesamtbetrachtung aller Faktoren darstellen lassen – von der Spindel über die Zerspanungsstrategie bis hin zu Werkzeugkonzept, Logistik und Qualitätssicherungsverfahren.“

Bei der ersten belastbaren Kalkulation der Produktionskosten und -zeit pro Stück ergaben sich Werte, die den Preis am Markt deutlich erhöht hätten. „Um die Kosten und Zeiten zu optimieren, mussten wir an den einzelnen Faktoren des Prozesses schrauben. Durch den Einsatz von Sonderwerkzeugen konnten wir die Bearbeitungszeit und den Werkzeugwechsel reduzieren. Danach musste geprüft werden, wie sich das auf die anderen Elemente und Produktionsschritte auswirkt“, erklärt Matthias Fahrner von der technischen Beratung bei Walter. Die wenigen feststehenden Parameter waren die Leistungsdaten der Maschine, die bereits für Shanghai bestellt war, die geplante Geometrie des Bauteils und die angestrebten Stückkosten (CPP).

Zerspanungsstrategie
GEMÜ bearbeitet die Gussrohlinge in einer Aufspannung und erreicht auf diese Weise exakte Form- und Lagetoleranzen. Bild: GEMÜ

Unterstützung durch das Walter Technology Center

Ein Großteil der Entwicklungsarbeit fand bei Walter in Tübingen statt. Hier steht mit dem Technology Center auf 5.000 qm eine moderne technische Infrastruktur zur Verfügung, mit der sich alle Schritte bei der Entwicklung einer Zerspanungsstrategie abbilden lassen, bis hin zum konkreten Zerspanungsvorgang. Für den Erfolg des Projekts Victoria war das ein entscheidender Faktor – und, dass Walter in China ein eigenes, hochqualifiziertes Team vor Ort hat. Um im Walter Technology Center den Prozess so realistisch wie möglich nachzustellen, erhielt Walter von GEMÜ sämtliche Konstruktionsdaten der geplanten Bauteile. Getestet wurde im Technology Center auf einer Heller FT8000, die von ihren Basis-Parametern der in Shanghai verwendeten Maschine am nächsten kommt.

Bei jedem Produktionsschritt ermittelte das digitale Fertigungsassistenzsystem Comara appCom die realen Maschinendaten. Die Zerspanungsstrategie ließ sich so bei Walter in Tübingen optimieren, gleichzeitig liegt den Maschinenverantwortlichen in Shanghai eine umfassende Dokumentation vor, um die Maschine dort entsprechend einzurichten. Das Projektteam von GEMÜ und die Projektingenieure von Walter standen in engem Austausch, um die endgültige Bauteilgeometrie der R480 über verschiedene Größen hinweg zu optimieren.

Matthias Fahrner beschreibt das Vorgehen: „Zum Walter Technology Center gehört nicht nur die Technik. Die Ingenieure und Anwendungstechniker dort bringen viel Erfahrung mit komplexen Zerspanungsaufgaben in unsere Kundenprojekte ein. So haben wir davon profitiert, dass Walter mit dem zu zerspanenden Material, Sphäroguss GGG40, und den damit einhergehenden Anforderungen sehr viel Erfahrung hat. Obwohl bei der Fertigung der R480 fast alle Zerspanungsarten vorkommen, konnten wir die Zahl und die Typen der eingesetzten Werkzeuge gegenüber unserem Start-Setup deutlich reduzieren. Zusätzlich haben wir Bearbeitungsschritte über unterschiedliche Versionen der R480 hinweg standardisiert. Das spart nicht nur Rüstzeiten an der Maschine, sondern vereinfacht auch das Tool Management enorm.“

Optimierung des Produktionsprozesses

Alle Zielvorgaben des Projekts Victoria wurden erreicht: Das gemeinsam erarbeitete Zerspanungsverfahren ermöglicht enge Form- und Lagetoleranzen des gesamten Bauteilkörpers. Die Klappe ist technisch so optimiert, dass sich durch die geringere Kräftewirkung das Drehmoment um 20 Prozent verringert. Die R480 ist damit besonders verschleißarm und verfügt über eine längere Lebensdauer. Das neue, schlankere und dadurch strömungsoptimierte Scheibendesign sorgt für verbesserte Kv-Werte. Der Druckverlust bei geöffneter Klappe fällt um zehn Prozent geringer aus als beim Vorgängermodell oder vergleichbaren Klappen anderer Anbieter. Die Klappen lassen sich so mit erheblich geringerem Energieaufwand betreiben – was wiederum Betriebskosten einspart.

Der Autor Siegfried Schaal ist technischer Redakteur bei der Walter AG.

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