08.07.2013 – Kategorie: IT, Management

Virtual Reality in der Ausbildung: Wenn Baugruppen zum Erlebnis werden

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Nach der Förderzusage im Rahmen des Sonderprogramms „Willkommen in der Wissenschaft“ ist das Projekt „KOMPASS – Kommunikative Orientierung & Maschinenbauliche Praxis Aktiviert Startende Studierende“ an der Hochschule Mannheim angelaufen. Das Projekt „KOMPASS“ hat seinen Ursprung in Erfahrungen und Ideen von Prof. Dipl.-Ing. Christian Möllenkamp (Institut für CAE) und wird von Professoren anderer Fakultäten, vom Service-Zentrum Lehre und vom Kompetenzzentrum Virtual Engineering Rhein-Neckar (KVE) der Hochschule Mannheim unterstützt, also fakultätsübergreifend realisiert. Im Rahmen von Kleingruppen-Tutorien machen bei „KOMPASS“ die Studierenden (Erst- und Zweitsemester) „Praxiserfahrungen“ mit technischen Bauteilen und komplexen Baugruppen.

Kleingruppen-Tutorien in der CAVE

Diese technischen Gebilde liegen entweder physikalisch, also real, vor, oder sie sind in virtueller Realität dreidimensional erlebbar. Dadurch wird unabhängig von Vorkenntnissen der Studienanfänger eine für alle gleiche Kommunikationsgrundlage geschaffen und eine wertschätzende Vernetzung unterschiedlich vorgeprägter Studierender durch gegenseitiges Erklären am Objekt oder gemeinsame praktische Arbeiten am Objekt gefördert.

Die Kleingruppen-Tutorien in der CAVE, einem stereoskopischen Projektionsraum, ermöglichen den Studierenden, mitten in „ihren“ Modellen zu sein. Die Projektionstechnik erlaubt es, räumliche Anordnungen und Formen (zum Beispiel bei darstellender Geometrie), aber auch konstruktionssystematisch wichtige Wirkflächenpaare direkt zu erleben: sich also dorthin zu begeben („zu denken“), wo das Detailproblem steckt. Einzelne Situationen sich vor seinem „inneren Auge“ vorzustellen, ist bekanntlich eine wichtige Fähigkeit zur erfolgreichen Neuentwicklung von Produkten. Virtuelles Erleben in der CAVE kann auch individuell das Bewusstsein für das eigene Vorstellungsvermögen („Virtual Engineering im Kopf“) wecken und schärfen. (Bild 1)

Studierende in den Anfangssemestern technisch orientierter Studiengänge sind durch eine große Heterogenität geprägt, was ihre theoretischen und praktischen Kenntnisse und Erfahrungen anbelangt. Die zu erlernenden darstellenden Methoden des Maschinenbaus haben in den letzten Jahrzehnten vom Inhalt her zugenommen, von den Werkzeugen her sind sie Veränderungen in der Art unterworfen, dass nun nicht mehr handwerkliches Zeichengeschick, sondern das Beherrschen einer CAD-Umgebung von einem Berufseinsteiger erwartet wird. Gegenüber der „Reißbrettzeit“, in der viele der heute aktiven Professoren studiert haben, müssen heute die CAD-Voraussetzungen wie Skizzieren, räumliches Freihandzeichnen und auch wieder Übungen zur darstellenden Geometrie verstärkt in den Fokus genommen werden. Allerdings wurden einerseits die zur Lehre der inhaltlichen und methodischen Grundlagen bereitstehenden Stunden reduziert, andererseits gehen aktuelle Lehransätze konsequent den Weg der Praxis, Einzelteile aus dem Bauzusammenhang  her funktionsgerecht und maßlich zu gestalten, und nicht, wie zu den „Reißbrettzeiten“, Einzelteil um Einzelteil – vom Blech- zum Frästeil sich steigernd – exakt und schön zu zeichnen.

Für den dafür notwendigen Einblick in den Bauzusammenhang, das Verstehen der Funktionen, stellt Virtual Reality (VR) das einzige Mittel dar, ohne Erfahrung im Lesen von Zusammenbauzeichnungen  und  ohne geschultes Vermögen, im Kopf ganze Baugruppen von der Vorstellung her zu durchdringen, frühzeitig „zeichnerische“ Aufgabenstellungen mit wirklich „konstruktivem“ hinreichend anspruchsvollem, weil komplexem Kontext zu stellen. Das Medium VR erlaubt dabei auch stark unterschiedlich vorgebildeten Teams intensive „Vor-Ort-Zusammenarbeit.“

Vorstellungsvermögen wird gefördert

Im Zuge der Vorlesung zu den darstellenden Methoden des Maschinenbaus (traditionell im Maschinenbau der HS Mannheim mit „KO1“ bezeichnet), wurden mittlerweile mit gut 90 Studierenden der ersten Semester des Studiengangs Maschinenbau erste KOMPASS-Kleingruppen-Tutorien am KVE Rhein-Neckar durchgeführt. Inhalte der jeweils rund 40-minütigen Tutorien mit maximal acht Teilnehmern waren nach einer allgemeinen Vorstellung des Arbeits- und Kommunikationswerkzeuges Virtual Reality dabei zuerst grundlegende Problemstellungen der darstellenden Geometrie. So konnten die Studierenden verschiedene Kegelschnitte (zum Beispiel Ellipse oder Parabel), Durchdringungen von Körpern (zum Beispiel Pyramide – Sechskant) oder auch Abwicklungen von Körpern dreidimensional und interaktiv „erleben“. (Bild 2)

Die Studierenden wurden hierbei konkret animiert, die Bedienung der virtuellen Welt in der Vier-Seiten-CAVE selbst zu übernehmen und Schnittebenen selbst durch die bereitgestellten Modelle zu navigieren. Ziel dabei war, das räumliche Vorstellungsvermögen der angehenden Ingenieure zu fördern, den Bezug zu momentanem Vorlesungsstoff herzustellen und die Motivation für die von Hand auszuführenden Zeichenaufgaben zu steigern. In der Befragung nach dem Tutorium sagte einer der Teilnehmer: „Es fällt mir nun viel leichter, mir vorzustellen, wie ich so eine Durchdringung zeichnen muss.“

In einem zweiten Schritt wurden die Studierenden dann in ihren Projektgruppen mit dem 3D-Modell eines Vorgelegegetriebes konfrontiert. Dieses technische Gebilde gehört zum Umfeld der aktuellen Semesterabschlussaufgabe und war den Teilnehmern daher bereits in Form von Fotos, schriftlichen Beschreibungen, Datenblättern  und technischen Zeichnungen bekannt. (Bild 3 und 4)

Die Studierenden haben bei dieser herausfordernden Abschlussaufgabe unter anderem folgende Teilaufgaben zu lösen:

  • maßstäbliche Zeichnung der Lagerbuchse. Orientierung dabei an der Ritzelwelle. Fehlende Maße sind sinnvoll unter Berücksichtigung der Zahnradbreite anzunehmen. Geforderte Toleranzen hinsichtlich von Maßen aber auch hinsichtlich von Form und Lage sind festzulegen und anzugeben.
  • Skizze einer Schnittdarstellung der Baugruppe „Antriebswellenlagerung“ (bestehend aus Lagerbuchse, Ritzelwelle, Lagern, Sicherungsringen, Sprengring, Passfeder).
  • Frei-Hand-Skizze (isometrisch) der Baustufe des Getriebes, bei der nur Platten und Zwischenleisten montiert sind und die Lagerbuchse eingepresst wurde.

Während dieses Tutorien-Abschnittes wurde bewusst darauf verzichtet, die Studierenden zu führen oder anzuleiten. Vielmehr war beabsichtigt, die von ihrem technischen Vorwissen sehr heterogenen Gruppen zur Kommunikation mit und über die Projektaufgabe zu bewegen. In allen Gruppen wurde diese Möglichkeit sehr gut angenommen und es entwickelten sich rege Gespräche über die Aufgabenstellung und zum Beispiel die Funktionsweise der einzelnen Bauteile beziehungsweise des gesamten Getriebes. Die Studierenden nahmen nach anfänglichem Zögern die Navigation durch das 3D-Modell selbst in die Hand und verschoben etwa Schnittebenen oder blendeten Bauteile aus, um die Teile besser begutachten zu können, die für die Abschlussaufgabe nach ihrer Meinung relevant waren. „Jetzt habe ich endlich verstanden, für was die Aussparung in der Lagerbuchse benötigt wird!“, war einer der typischen Kommentare. (Bild 5 und 6)

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die Teilnehmer der ersten „Lehr-“Veranstaltung dieser Art am KVE Rhein-Neckar sehr positiv auf das Werkzeug VR reagiert haben. Den vom studentischen Tutor befragten Studierenden war ein Mehrwert durch die „begehbare“ dreidimensionale Darstellung von technischen Bauteilen nach dem Tutorium ersichtlich. Außerdem konnte auch festgestellt werden, dass das Lehrziel, die Kommunikation in einer „technischen Sprache“ anzuregen, vollends erreicht wurde. Der Wunsch, möglichst bald im Studium wirkliche „Eigenentwicklungen“ dort in der CAVE visualisieren und optimieren zu können, wurde häufig und mit Nachdruck artikuliert.  Vor allem das einfachere Erklären/Kommunizieren im Team wurde von den Studierenden als großer Vorteil angesehen: „Grundsätzlich werden Sachen oder Probleme sichtbar, die nicht auf den ersten Blick in einer Zeichnung zu erkennen sind. Die Möglichkeit der interaktiven Schnittebene in der VR-Software war sehr hilfreich, vor allem, dass sie nicht kompliziert erstellt werden muss, sondern man direkt dahin schauen kann, wo ein Detail interessiert.“ Damit decken sich die Einschätzungen der Studienanfänger grundsätzlich mit denen der häufig fachlich gemischten Teams aus Industrieunternehmen, die die CAVE des KVE Rhein-Neckar als Kommunikations- und Entwicklungsumgebung nutzen.

Fazit und Ausblick

Nach Korrektur der zwischenzeitlich fertig gestellten Abschlussarbeiten kann konstatiert werden, dass signifikant weniger funktionelle Fehler in den Zusammenbauskizzen vorliegen. Das ist sicher nur eine Tendenz, die noch nicht ausreichend vergleichend evaluiert ist, aber für einen weiteren Einsatz von VR motiviert.

Im Zuge des Projekts KOMPASS werden diese Art von Tutorien in Zusammenarbeit mit dem Service-Zentrum-Lehre der Hochschule Mannheim didaktisch weiterentwickelt und damit in Zukunft VR verstärkt in die Ausbildung der angehenden Ingenieure einfließen. Dem Stand der Technik entsprechend, können den Studierenden so auch im weiteren Studienverlauf dann verständliche Etappen des Produktentstehungsprozesses von der Idee über konstruktionsmethodische Ausarbeitung, Variantenbewertungen, Simulation, Visualisierung, Herstellung und Montage in virtueller Realität begreifbar und erlebbar nahegebracht werden. Dabei wird unbedingt angestrebt, vieles auch in der Realität (anfassbar) vorzuhalten, um so den heutigen, manchmal als „Digital Natives“ bezeichneten Studienanfängern in jedem Fall auch – vielleicht über den „attraktiven Umweg VR“ –  den frühen Bezug zu realen Maschinenteilen und Baugruppen zu ermöglichen. (anm)


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