20.10.2015 – Kategorie: Fertigung & Prototyping
MES – wieviel „Industrie 4.0“ steckt drin?
MES gilt als einer der Enabler der Industrie 4.0. Doch welche Systeme erfüllen wirklich die Kriterien – eine Untersuchung des Fraunhofer IPA gibt Aufschluss. Von Thomas Wochinger und Andreas Kluth
Industrie 4.0 wird oft als die vierte Stufe der Industrialisierung bezeichnet. Kern ist dabei die intelligente Vernetzung zwischen Menschen, Objekten und Systemen, die es ermöglicht, echtzeitnahe Informationen bereitzustellen, dynamisch zu reagieren und übergreifende Optimierungen durchzuführen. Andererseits haben sich seit einigen Jahren Manufacturing-Execution-Systeme (MES) in den Unternehmen etabliert: deren Kernidee ist die Bereitstellung einer reaktionsschnellen, integrierten Informationsverarbeitung im Produktionsbereich und Nutzung der sich hieraus ergebenden Möglichkeiten.
Es stellt sich nun die Frage, welchen Funktionsumfang MES heute erreicht haben und welchen Beitrag sie im Kontext von Industrie 4.0 leisten.
Funktionen des MES
Der Begriff der Manufacturing Execution Systems (MES) entstand Mitte der 90er Jahre in den USA. Die Entwicklung der Funktionen von MES-Lösungen ist gekennzeichnet durch die Einbindung von immer neuen Funktionen in die angebotenen Softwarelösungen.
Einige der heutigen MES-Lösungen haben ihre Wurzeln in Werkzeugen, die schon in den 1980er Jahren beispielsweise zur Werkstattsteuerung (Fertigungsleitstände) oder zur Betriebsdatenerfassung (BDE) eingesetzt und über Jahrzehnte hinweg stetig weiterentwickelt wurden. MES-Funktionen lassen sich in die drei Kategorien Datenmanagementfunktionen, Entscheidungsfunktionen und Dokumentations- und Auswertefunktionen unterteilen [1].
MES Industrie 4.0: schnell auf Störungen reagieren
Mit der durch die Strategie „Industrie 4.0“ anvisierten intelligenten Fabrik ist es möglich, Komplexität zu beherrschen, schnell auf Störungen zu reagieren und die Effizienz in der Produktion zu steigern [2]. Fester Bestandteil von Industrie 4.0 sind sogenannte cyber-physische Systeme (CPS). CPS bestehen aus eingebetteten Systemen (etwa als Teil von Geräten, Produkten, Produktionsanlagen und Werkzeugen), die geeignet mit ihrem Umfeld vernetzt sind.Dadurch lassen sich unmittelbar physikalische Daten mit Sensoren erfassen, weltweit verfügbare Daten und Dienste verwenden, die Daten und Informationen beliebig auswerten und speichern, eine effiziente Informationsbereitstellung realisieren oder sogar auf die physikalische Welt mit entsprechenden Aktoren einwirken.
Thema „Industrie 4.0“ ist vielfältig und umfassend
Das Thema „Industrie 4.0“ ist dabei sehr vielfältig und umfassend (Bild 1). Elemente von Industrie 4.0 beziehen sich auf Objekte vom Shop-Floor bis ins gesamte Wertschöpfungsnetz und haben einen unterschiedlichen zeitlichen Horizont (von Echtzeit bis zu langfristigen Betrachtungen).
Entscheidend ist die intelligente, aufwandsarme Vernetzung zwischen den Elementen. Folgende sind für das Zusammenspiel mit einem MES besonders relevant: Planung und Steuerung: wie erfolgen die Planungs- und Steuerungsprozesse sowie die Interaktion mit (intelligenten) cyber-physischen Systemen? Sensorik & Aktorik: welche Systeme (Sensoren und Aktoren) werden zur Erfassung von Daten und zum kognitiven Eingriff benötigt? Auswertungen und Analysen: mit welchen Auswertungen (strategisch, taktisch bis hin zur Echtzeit) und Methoden lassen sich aus den verfügbaren Daten Wissen generieren und geeignete Maßnahmen ableiten? Workflows: welche Automatismen und Regelwerke greifen beim Auftreten von Störungen, um diese möglichst effizient abzustellen? IT-Werkzeuge: wie kann durch IT auf einfache Art und Weise eine vertikale und horizontale Integration ermöglicht werden? Mitarbeiter: wie werden Mitarbeiter durch Industrie 4.0 unterstützt und assistiert?
Erste Abschätzungen der Nutzenpotentiale von Industrie 4.0 gehen von der Reduktion an Beständen von 30 bis 40 Prozent, einer Reduktion der Fertigungs- und Logistikkosten um jeweils 10 bis 20 Prozent und einer Senkung der Komplexitätskosten um sogar 60 bis 70 Prozent aus. [3].
Entscheidend ist, dass Mitarbeiter durch Industrie 4.0 auf allen Ebenen geeignet unterstützt werden.
Der Beitrag des MES – Relevante Informationen einbinden
Durch die Möglichkeit, in einem MES umfangreiche und vielfältige Daten sowie Informationen zu erfassen, bildet das MES eine Datendrehscheibe, die eine horizontale Integration ermöglicht. Informationen zu Aufträgen und Ressourcen werden über Betriebs- und Maschinendatenerfassung im MES erfasst, verarbeitet und gespeichert – im Normal-/Regelbetrieb, aber auch im Falle von auftretenden Störungen.
Auf diese Weise lassen sich Informationen von Mitarbeitern, Maschinen, Werkzeugen, Behältern, Transportmitteln, Prüfanlagen oder weiteren relevanten Systemen und Sensoren einbinden.
Bis in die Supply Chain: Neben einer horizontalen Integration ermöglicht das MES auch die Integration in vertikaler Richtung – von der Maschinenebene bis ins ERP-System oder sogar in die Supply Chain. Informationen auf dem Shop-Floor werden erfasst, aufbereitet und in geeigneter Form den übergelagerten Ebenen bereitgestellt. So entsteht Transparenz über aktuelle und anstehende Aufträge sowie Ressourcenzustände. Die Möglichkeiten gehen bereits heute dahin, dass MES-Informationen werks- oder unternehmensübergreifend ausgetauscht werden.
Durch Industrie 4.0 wird das MES zum Assistenzsystem für den Mitarbeiter
Kennzahlen helfen Mitarbeitern: MES ermöglichen das Monitoring und die Optimierung der Produktion mit Hilfe von Kennzahlen in beliebigen Zeithorizonten (Echtzeit, kurz-, mittel- und langfristig) und auf allen Hierarchieebenen. So entsteht Transparenz über Aufträge und Ressourcen. Zunehmend ist auch die Integration von geeigneten Kostenkennzahlen und deren richtige Zuordnung Bestandteil von MES-Funktionen.
Unterstützung durch mobile Geräte: Unter dem Stichwort „mobile MES“ ist die Erfassung und die Bereitstellung von Produktionsdaten mit Hilfe von mobilen Endgeräten (beispielsweise Smartphones und Tablets) zu verstehen. Mobile Geräte ermöglichen eine einfache Erfassung von Informationen von verschiedensten Quellen (Maschinen, Qualitätsinformationen und so weiter). Auch an dieser Stelle steigt der Funktionsumfang von MES-Lösungen kontinuierlich.
Vom Steuerungs- zum Regelungssystem: Durch die entstehende Transparenz werden Mitarbeiter befähigt, besser und schneller Entscheidungen zu treffen. Durch Industrie 4.0 wird das MES zum Assistenzsystem für den Mitarbeiter. Im System hinterlegte Regeln ermöglichen es, gezielt Informationen an die richtigen Personen und Verantwortlichen automatisch zu übermitteln. So können Entscheidungsprozesse stark beschleunigt werden. Durch Industrie 4.0 erfolgt damit der Übergang von einem Steuerungs- hin zu einem Regelungssystem. Beispielsweise können für Produktionsparameter wie Rüstzeiten automatisch verbesserte Planwerte vorgeschlagen werden, falls diese nicht mehr die notwendige Genauigkeit aufweisen.
Marktspiegel gibt Klarheit über MES und Industrie 4.0
Im April hat der Fraunhofer IPA die Trovarit AG die 5. Auflage des MES-Marktspiegels veröffentlicht, der den Funktionsumfang von über 110 MES-Lösungen im Detail untersucht und deren Unterstützung hinsichtlich Industrie 4.0 bewertet [4] (Siehe Bild 2). Während die Unterstützung von Aufgaben zur Personalzeit- und Prüfdatenerfassung einen Erfüllungsgrad von 55 beziehungsweise 60 Prozent aufweisen, besitzen über 70 Prozent der Systeme Funktionen zur Maschinendatenerfassung (MDE) und Betriebsdatenerfassung (BDE). Bei den BDE-Funktionen stehen Funktionen zum Erfassen von Mengen-, Zeit- und Störinformationen im Fokus. Dies wird von etwa 60 bis 65 Prozent der Anbieter im Standard angeboten. Andere Funktionen hinsichtlich der Terminalanzeigen werden heute von 55 bis 60 Prozent der Anbieter umgesetzt. Weniger umgesetzt wird bisher die Erfassung von Gemeinkostentätigkeiten. jbi
[1] VDI-Richtlinie 5600 Blatt 1: Fertigungsmanagementsysteme – Manufacturing Execution Systems (MES). Beuth Verlag, Berlin 2007.
[2] acatech.; Promotorengruppe Kommunikation der Forschungsunion Wirtschaft-Wissenschaft: Umsetzungsempfehlungen für das Zukunftsprojekt Industrie 4.0. Abschlussbericht des Arbeitskreises Industrie 4.0, 2013.
[3] Bauernhansl, Thomas (Hrsg.); Hompel, Michael (Hrsg.); Vogel-Heuser, Birgit (Hrsg.): Industrie 4.0 in Produktion, Automatisierung und Logistik: Anwendung, Technologien und Migration, Springer, Wiesbaden, 2014.
[4] Wochinger, Thomas; Kluth, Andreas; Kipp, Rolf; Fraunhofer-Institut für Produktionstechnik und Automatisierung IPA: MES – Fertigungssteuerung 2015/2016: Marktspiiegel Business Software, 5., überarb. Aufl. Aachen; Stuttgart, 2015.
Dipl.-Wirt.-Ing. Thomas Wochinger ist Gruppenleiter für das Themengebiet Produktionsplanung und -steuerung am Fraunhofer-Institut für Produktionstechnik und Automatisierung IPA in Stuttgart.
Dipl.-Ing. Andreas Kluth ist Projektleiter am Fraunhofer IPA Stuttgart in der Abteilung Fabrikplanung und Produktionsmanagement.
Lesen Sie auch: Roboterantrieb – das Spiel mit Moment und Bauform.
Teilen Sie die Meldung „MES – wieviel „Industrie 4.0“ steckt drin?“ mit Ihren Kontakten:
Zugehörige Themen:
Manufacturing Execution System (MES)