11.01.2016 – Kategorie: Management

Expertentalk: Arbeitssicherheit – ein heikles Thema

Arbeitssicherheit ist ein heikles Thema.

Arbeitssicherheit ist und bleibt ein heikles Thema. Trotzdem haben wir einige Experten gefunden, die sich unseren Fragen gestellt haben. Herausgekommen sind Anregungen, die helfen können, die Unfallzahlen noch weiter zu senken. Von Jan Bihn

Finger ab, Platzwunde am Kopf oder gar Schlimmeres. Der Supergau für den betroffenen Mitarbeiter, aber auch unangenehm für die verantwortliche Führungskraft. Die gute Nachricht: laut der Statistik „Arbeitsunfallgeschehen 2014“ der Deutschen Gesetzlichen Unfallversicherung (DGUV) wurden nach der Wiedervereinigung 1991 für Deutschland noch insgesamt 1,8 Millionen Arbeitsunfälle gezählt; seither hat sich die Zahl der meldepflichtigen Arbeitsunfälle auf rund 880.000 halbiert und auf diesem Niveau stabilisiert.
Wie lässt sich diese Zahl noch weiter senken? Wir haben Experten nach der aktuellen Entwicklung befragt und dazu, was man über das nötige hinaus machen sollte. Zur Sprache kommt neben der Novelle der Betriebssicherheitsverordnung (BetrSichV), die in Deutschland am 1. Juni 2015 in Kraft getreten ist, auch, wie sich die zunehmende Vernetzung und Industrie 4.0 auswirken könnte.

1. Was würden Sie einem Produktionsverantwortlichen raten, der die Sicherheit in seinem Bereich verbessern möchte? Auch, wenn die grundlegenden gesetzlichen Regelungen ausgeschöpft sind?

Michael Schröter, Dekra.

Michael Schröter, Produktmanager Arbeits- und Gesundheitsschutz, Dekra: Der Arbeitgeber darf sich nicht auf erreichten Erfolgen ausruhen. Er muss ein Klima im Unternehmen schaffen, das den Arbeits- und Gesundheitsschutz als kontinuierlichen  Verbesserungsprozess versteht. Stillstand bedeutet in diesem Bereich Rückschritt, da der Arbeitsschutz auf jede Veränderung im Betrieb reagieren muss. Wer mehr Kontinuität möchte, kann zudem beispielsweise ein betriebliches Gesundheitsmanagement (BGM)  oder ein Arbeitsschutzmanagement-System (AMS)  einführen, das alle Maßnahmen des Arbeitsschutzes und der Gesundheitsförderung quer über alle betrieblichen Bereiche bündelt, koordiniert und verbessert.

Christian Bittner, Pilz.

Christian Bittner, Senior Manager Consulting & Services, Pilz: Betriebe müssen eine befähigte Person benennen, die die notwendigen technischen Dokumentationen erstellt und die sicherheitstechnischen Prüfungen nach Betriebssicherheitsverordnung (BetrSichV) durchführt. Alternativ kann dies auch an eine externe Stelle vergeben werden – wobei dann die Kompetenz des Dienstleisters zu prüfen ist. Diese erkennt man an einer entsprechenden Akkreditierung, die gleichzeitig eine rechtlich verbindliche Kompetenzaussage trifft. Die Pilz GmbH & Co. KG, Ostfildern, unterhält eine durch die DAkkS akkreditierte Inspektionsstelle für Maschinen und Anlagen.

Dr. techn. Norbert Elkmann, Fraunhofer IFF.

Dr. techn. Norbert Elkmann, Leiter Geschäftsfeld Robotersysteme, Fraunhofer IFF: Von Produktionsanlagen darf grundsätzlich keine Gefahr für die Beschäftigten ausgehen. Die Vorgaben aus Maschinenrichtlinie und Betriebssicherheitsverordnung müssen entsprechend umgesetzt werden. Es ist eine Gefährdungsanalyse zu erstellen und es gilt, die sich daraus ergebenden Sicherheitsmaßnahmen zu realisieren. Dies beinhaltet auch ergonomische Aspekte.

Markus Kienzle, Sick.

Markus Kienzle, Produkt Manager Safety Services, Sick: Nichts ist schlimmer, als zu glauben, alles wäre sicher. Deshalb raten wir zu regelmäßigen Gefährdungsbeurteilungen und das nicht nur nach Änderungen an den Anlagen. Hierdurch werden auch gewollte oder ungewollte Manipulationen der Schutzeinrichtungen aufgedeckt. Das betriebliche Vorschlagswesen auf Arbeitssicherheit auszudehnen, kann in einer kontinuierlichen Verbesserung münden. Zudem empfiehlt es sich, externe, unabhängige Partner hinzuzuziehen – das verhindert, dass mögliche Maßnahmen internen Interessenkonflikten zum Opfer fallen.

Christoph Preuße, Bundesgenossenschaft Holz und Metall.

Christoph Preuße, Präventionsleiter der Berufsgenossenschaft Holz und Metall: Sind die grundlegenden gesetzlichen Regelungen im Unternehmen umgesetzt und eingeführt, deckt dies alle Bereiche des modernen Arbeits- und Gesundheitsschutzes eines Betriebs ab. Zentraler Bestandteil ist hier die gelebte Gefährdungsbeurteilung. Sie umfasst die genannten Bereiche, die Verhältnisse im Betrieb sowie das Verhalten der einzelnen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. Im Zuge der abzusehenden Entwicklungen entstehen Arbeitsverhältnisse, die aus dem derzeitigen „Betriebsraster“ herausfallen. Werden größere Fertigungsanlagen durch einen Generalauftragsnehmer installiert, sind Einzelpersonen fachlich in das Projekt eingebunden, die außerhalb des Betriebs und eventuell selbstständig arbeiten. Dadurch ergeben sich neue Schnittpunkte. Die staatlichen Regelungen hierfür sind schon heute vorhanden, zum Beispiel mit der Betriebssicherheitsverordnung. Was neu sein wird, ist die Erhöhung der Anzahl und die Art solcher Schnittstellen.

 

2. Gibt es aktuelle Änderungen (Normen/Gesetze), die besonders zu beachten sind?

Michael Schröter, Produktmanager Arbeits- und Gesundheitsschutz, Dekra: Die neue Betriebssicherheitsverordnung (BetrSichV), die in Deutschland am 1. Juni 2015 in Kraft trat, schreibt einige Neuerungen bei der Gefährdungsbeurteilung vor, die noch nicht allgemein bekannt sind. Hervorzuheben sind psychische Belastungen und besondere Betriebszustände – wie bei Wartungsarbeiten oder Reparaturen –, die jetzt verstärkt bei der Gefährdungsbeurteilung berücksichtigt werden müssen.

Christian Bittner, Senior Manager Consulting & Services, Pilz: Seit Juni 2015 ist die Novelle der BetrSichV in Kraft. Sie soll den Arbeitsschutz bei der Verwendung von Arbeitsmitteln verbessern. Dazu müssen die Verantwortlichen Art und Umfang der erforderlichen Prüfungen der Schutzeinrichtungen festlegen. Dabei sind ergonomische und psychische Belastungen am Arbeitsplatz nun stärker zu berücksichtigen. Auch die Anforderungen und Prüfpflichten für besonders gefährliche Arbeitsmittel, beispielsweise Krane, sind darin genauer spezifiziert.

Dr. techn. Norbert Elkmann, Leiter Geschäftsfeld Robotersysteme, Fraunhofer IFF: Bei der Mensch-Roboter-Kollaboration wurden relevante Normen wie die EN ISO 10218 Teil 1 und 2 bereits 2012 überarbeitet. Ende 2015 wird die ISO/TS 15066 veröffentlicht, die zusätzliche Sicherheitsvorgaben zur Mensch- Roboter- Kollaboration aufführt. Aufgrund der Aktualität des Themas besteht seitens der Industrie hoher Bedarf an klaren Sicherheitsvorgaben. Es gibt aber auch noch offene Fragen: Mensch und Roboter dürfen sich nach den normativen Vorgaben grundsätzlich berühren, aber welche Grenzwerte müssen eingehalten werden? Das Fraunhofer IFF führt daher aktuell umfangreiche Untersuchungen durch, um die Grenzen für den Schmerz- und Verletzungseintritt bei Kollisionen zwischen Mensch und Roboter mit Probandenversuchen zu ermitteln. Diese Werte werden nach Abschluss der Studien in die Normen übernommen.

Markus Kienzle, Produkt Manager Safety Services, Sick: Mitte 2015 trat eine neue BetrSiV in Kraft, die einige wichtige Änderungen beinhaltet. Sie weist noch konkreter darauf hin, dass die CE-Kennzeichnung einer Maschine den Betreiber nicht von der Pflicht einer Gefährdungsbeurteilung am Einsatzort entbindet. Konkretisiert wurde zudem die Notwendigkeit, die Wirksamkeit der Schutzmaßnahmen und die Gefährdungsbeurteilung regelmäßig zu prüfen. Selbst für beauftragte Dienstleister hat der Auftraggeber nun die Verantwortung, dass der Dienstleister die entsprechende Fachkunde mitbringt. Vereinfachungen gibt es dadurch, dass künftig einige Doppelregelungen mit anderen Vorschriften vermieden werden und die Anforderungen an die Dokumentation präzisiert wurden. Ebenso wird der Stand der Technik nun einheitlicher definiert.

Christoph Preuße, Präventionsleiter der Berufsgenossenschaft Holz und Metall: Das Arbeitsschutzgesetz von 1996 ist die grundlegende Rechtsnorm, die heute und auch künftig einen verlässlichen und stabilen Rahmen vorgibt. Die in diesem Jahr in Kraft getretene Novellierung der Betriebssicherheitsverordnung unterstützt den modernen Rahmen. Im Zuge des Präventionsgesetzes, das die Verbindung der Krankenkassen, Rentenkassen und Unfallversicherungsträger stärker fokussiert, wird auch das betriebliche Gesundheitsmanagement gestärkt.

 

3. Welche Probleme und Mängel sind besonders häufig in den Betrieben anzutreffen?

Michael Schröter, Produktmanager Arbeits- und Gesundheitsschutz, Dekra: Ein häufiges Versäumnis in den Unternehmen ist der nicht erfolgte Aufbau einer Arbeitsschutzorganisation, die der Gesetzgeber eigentlich vorschreibt. Oft werden von verschiedener Seite im Betrieb Einzelmaßnahmen zum Arbeits- und Gesundheitsschutz ergriffen, es gibt aber keine übergeordnete Organisationsstruktur, die sicherstellt, dass alle verfolgten Maßnahmen umgesetzt werden.

Christian Bittner, Senior Manager Consulting & Services, Pilz: Besonders unfallträchtig sind Instandhaltungsarbeiten an Arbeitsmitteln und Manipulationen an Schutzeinrichtungen. Auch hier setzt die Novelle an: Sie regelt die Bereitstellung und die Benutzung von Arbeitsmitteln sowie den Betrieb überwachungsbedürftiger Anlagen im Sinne des Arbeitsschutzes. An dieser Stelle sind Gerätesicherheit, Ergonomie und die Hygiene am Arbeitsplatz einbezogen.

Dr. techn. Norbert Elkmann, Leiter Geschäftsfeld Robotersysteme, Fraunhofer IFF: Im Bereich der Mensch-Roboter-Kollaboration hat sich vieles geklärt, was die Sicherheit betrifft. Dennoch besteht in zahlreichen Firmen Unsicherheit über die zu ergreifenden Sicherheitsmaßnahmen bei Mensch-Roboter-Kollaborationen. Nicht zuletzt spielt die Haftung der handelnden Personen hier auch eine Rolle. Realisierungsbeispiele sind in der Praxis noch selten. Wichtig ist, dass nicht nur Roboter bei der Risikoanalyse betrachtet werden, sondern auch Applikation, Greiftechnik, Werkstück und der Prozess.

Markus Kienzle, Produkt Manager Safety Services, Sick: Die Mängel im Feld sind vielfältig. Das größte Problem sind Schutzeinrichtungen, die nicht richtig angewandt werden und somit ihr Schutzziel nicht erreichen. Auch eine Maschine, die (angeblich) sicher gekauft wurde, kann Mängel aufweisen. Das CE-Kennzeichen ist lediglich eine Selbsterklärung des Herstellers. Vielmehr ist der Betreiber für die Sicherheit am Arbeitsplatz verantwortlich. Und der Betreiber muss auch nach Jahren im Betrieb die Sicherheit gewährleisten. Heikel sind Umbau oder Neukonfiguration der Maschine – hier sollte immer auch ein Experte für Maschinensicherheit hinzugezogen werden.

Christoph Preuße, Präventionsleiter der Berufsgenossenschaft Holz und Metall: Hier ist vor allem eine unzureichende Kommunikation zu nennen. Sie ist in unterschiedlichen Ausprägungen sowohl in KMU als auch in größeren Unternehmen anzutreffen. Das Thema der bestimmungsgemäßen Benutzung von Arbeitsmitteln muss kontinuierlich und nachhaltig kommuniziert werden. So lassen sich unsichere Improvisationen oder gar Manipulationen wirksam unterbinden.

 

4. Welche Rolle spielt das Thema Sicherheit im Kontext von Industrie 4.0?

Michael Schröter, Produktmanager Arbeits- und Gesundheitsschutz, Dekra: Der weltweite Trend zu Konnektivität, Robotik und autonomen Systemen wird in der betrieblichen Praxis eine neue Art von Gefährdungen und psychischen Stress für den Mitarbeiter hervorbringen. Diese müssen von den Verantwortlichen im Rahmen der Gefährdungsbeurteilung gesondert betrachtet werden. Wenn es um Maschinensicherheit geht, sind natürlich Standards erforderlich, die Sicherheit und Cyber Security berücksichtigen.

Christian Bittner, Senior Manager Consulting & Services, Pilz: Mit Industrie 4.0 muss sich das Verständnis für Sicherheit wandeln. Das gilt vor allem auch für die Datensicherheit. Wenn alles mit allem dezentral kommuniziert, steigt der Bedarf an abgesicherter Kommunikation – denn IT-Sicherheit und Betriebssicherheit werden nicht mehr so einfach voneinander zu trennen sein, wie es heute der Fall ist. Automatisierung und IT werden näher zusammenrücken und müssen neue, praktikable Lösungen bilden. Das betrifft gleichermaßen die Aspekte Maschinensicherheit und die Anforderungen an die Betriebssicherheit.

Dr. techn. Norbert Elkmann, Leiter Geschäftsfeld Robotersysteme, Fraunhofer IFF: Im Blick auf Industrie 4.0 ist vor dem Hintergrund der Vernetzung von Produktionsanlagen die Datensicherheit von besonderer Bedeutung.

Markus Kienzle, Produkt Manager Safety Services, Sick: Das ist noch nicht vollends absehbar, aber besondere Aufmerksamkeit bei allen Industrie-4.0-Szenarien sollte der Mensch-Maschine-Kollaboration gelten. Sicher ist, dass wir uns mit neuartigen Gefährdungen auseinandersetzen müssen, die wir heute noch nicht vollständig überblicken. Chance und Herausforderung gleichermaßen wird die zunehmende Erfassung und Auswertung von Daten auch in der Arbeitssicherheit sein.

Christoph Preuße, Präventionsleiter der Berufsgenossenschaft Holz und Metall: Sicherheit im Kontext der Industrie 4.0 beinhaltet ein Miteinander von „Arbeitssicherheit“ (Safety) und „Datensicherheit“ (Security). Können aufgrund mangelnder Datensicherheit Maschinen oder Fertigungsanlagen von außen manipuliert werden, kann dies Auswirkungen auf deren Sicherheitsfunktionen haben und Mitarbeiter unbemerkt gefährden. Durch zunehmende Vernetzung steigt gleichzeitig auch die  „Anfälligkeit“ gegenüber Manipulationen von außen. Arbeitssicherheit hängt somit unmittelbar mit Datensicherheit zusammen.


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