03.11.2021 – Kategorie: Automatisierung & Robotik
Autonome mobile Roboter: Mit Taktgefühl durch die Werkshalle
Was der automatisierte Materialtransport mit autonomen mobilen Robotern (AMR) bei Philips Austria in Klagenfurt bringt.
Autonome mobile Roboter: Jaqueline, Chiara und Sepp sind ganz besondere Kollegen. Sie unterstützen insbesondere den internen Materialtransport bei der Philips Austria GmbH im österreichischen Klagenfurt. Die drei sind autonom fahrende Transportroboter oder kurz AMR. Um die Akzeptanz der neuen Roboter-Kollegen zu steigern, haben die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Werks ihnen Namen gegeben. Wobei das Trio auch mit dem eigenen Verhalten dazu beiträgt, nicht anzuecken.
Autonome mobile Roboter für die Fabrik 4.0
Die Umstellung manueller Transportabläufe auf mobile Roboter ist Teil eines breit angelegten Modernisierungsprojekts bei Philips. Auf dem Weg zur Fabrik 4.0 setzt der Konzern Schritt für Schritt etwa auf Lean Mechanization, Digitalisierungstools in Produktion und Büro, Predictive Maintenance und Quality sowie automatisierte Workflows. Oberstes Ziel all dieser Einzelprojekte: Smart Manufacturing.
Smart zum Haarschneider
1881 in den Niederlanden gegründet, beschäftigt das Unternehmen Philips heute weltweit mehr als 73.000 Mitarbeiter.
Dabei hat Philips auch in Österreich eine lange Tradition: 1926 fasste der niederländische Konzern mit einer Vertriebsgesellschaft Fuß. Heute ist Österreich für Philips nicht nur ein interessanter Markt, sondern ein wichtiger Hightech-Standort mit Kompetenzzentren von globaler Bedeutung. Insgesamt beschäftigt das Unternehmen in Österreich rund 503 Mitarbeiter und ist in die Sparten Healthcare und Consumer Lifestyle aufgegliedert. 300 von ihnen arbeiten im österreichischen Klagenfurt, Sitz eines von weltweit fünf Philips Kompetenzzentren für „Personal Health“. Ihre Zentrale hat die Philips Austria jedoch im 12. Wiener Gemeindebezirk.
Der Philips Standort Klagenfurt produziert unter anderem jährlich mehr als 23 Millionen lineare Schneidelemente für Haar- und Bartschneidegeräte. Diese Bartschneider verfügen über die Lift-und-Trim-Technologie, bei der die Barthaare mithilfe spezieller Trimmaufsätze zunächst angehoben und im Anschluss durch die doppelt wirkenden Edelstahlklingen gleichmäßig abgeschnitten werden.
Projektziele: Zeit sparen, Effizienz steigern, Mitarbeiter-Skills besser nutzen
Der Transport dieser Schneidelemente im Werk Klagenfurt wurde viele Jahre von Maschinenbedienern übernommen, die dafür viele Meter Fußweg bewerkstelligen mussten – ein zeitraubendes und ineffizientes Unterfangen, das automatisiert werden sollte, um Mitarbeiter zu entlasten und die Overall Equipment Effectiveness (OEE) zu optimieren.
Die Mitarbeiter sollten in der Folge mehr Zeit für andere, kreativere und fordernde Aufgaben haben, bei denen sie ihre Fähigkeiten besser zum Einsatz bringen können. Startschuss des Future Factory-Programms von Philips war 2017.
„Wir wollten damals recht rasch Flagge zeigen und erste Smart Manufacturing Projekte in die Wege leiten. Die AMR boten sich hier gut an, da sie sich schnell einsetzen lassen“, berichtet Siegfried Seufzer, Operations Manager Production Personal Care bei Philips Klagenfurt.
Spurlos und dezent bitte!
Als es um die Auswahl passender Roboter ging, verglich das Projektteam verschiedene Anbieter und entschied sich für Omron. Warum – erklärt Seufzer: „Die Abmessungen mussten klein sein, und da passten die Geräte am besten. Wir wünschten uns ein Spur-ungebundenes System, da dieses weniger Platz in Anspruch nimmt. Außerdem lassen sich die AMR problemlos mit SAP koppeln, was eine weitere Anforderung war. Die Schnittstellen waren alle bereits vorhanden. Und wir kannten den Anbieter schon. Darauf konnten wir gut aufbauen“.
Weitere Pluspunkte, die für diese Roboter sprachen, waren ihre einfache Bedienung, die verhältnismäßig hohen Transportgeschwindigkeiten und die Funktionssicherheit in engen Bereichen. Sollte ein AMR einmal auf einen Mitarbeiter treffen, der ihm im Weg steht, kann er diesen warnen. Dies geschieht jedoch keinesfalls mit lautem Piepsen oder schrillen Warntönen. Denn die Geräte verfügen über Sprachfunktionen.
Autonome mobile Roboter transportieren bis zu 70 Kilo
Der Materialtransport durch die Mitarbeiter habe zuvor rund 15 Minuten pro Tag ausgemacht, „wertvolle Zeit, die sich weitaus sinnvoller nutzen lässt“, kommentiert Seufzer. Berechnungen haben in diesem Zusammenhang ergeben, dass sich durch den Einsatz von AMR die OEE um drei Prozent steigern lässt. Die Sicherheit der Geräte ist ein weiterer geschätzter Aspekt. Dazu fahren die Omron-AMR im Notfall beispielsweise einen Platz an, an dem sie etwaigen Notfallteams nicht im Wege stehen.
Heute transportieren die Geräte 500 bis 1.000 Schneidelemente pro Traggebinde. Da jeder AMR bis zu zehn Gebinde tragen kann, sind dies 10.000 Elemente mit einem Gewicht zwischen 60 und 70 Kilogramm. Jaqueline, Chiara und Sepp fahren dabei im Halbstundentakt. Ein Umlauf beinhaltet rund 400 Meter. Künftig ist auch der Transport deutlich schwererer Materialien via AMR angestrebt, um so Mitarbeiter zusätzlich zu entlasten.
Hinzu kommen aber noch weitere positive Effekte, die das Projektteam im Vorfeld gar nicht berücksichtigt hatte: So hat sich die Qualität der beförderten Teile verbessert. Der Materialfluss war vormals diskontinuierlich, und dichtgepackte Transportwagen führten zu Produktbeschädigungen. Durch den nun kontinuierlichen Materialfluss werden heute zwar mehr Fahrten durchgeführt, diese aber produktschonender abgewickelt. Transportschäden gehören der Vergangenheit an.
Zwei fahren, einer lädt
Es sind stets zwei Roboter unterwegs, während das dritte Gerät auflädt. Die Kommunikation erfolgt dabei nicht nur zwischen Maschine und AMR, sondern auch zwischen AMR und Mitarbeiter. Abfahrten kündigen die Roboter-Kollegen den umstehenden Mitarbeitern zur Sicherheit an. Auch etwaige Hindernisse erkennen sie blitzschnell und nehmen alternative Routen. Die komplette Koordination des Trios inklusive Lademanagement erfolgt autonom.
Mobile Robotik als Startpunkt in die Fabrik 4.0
Die Umstellung manueller Transporte auf automatisierte, von AMR unterstützte Abläufe dient so manchem Unternehmen als guter Einstieg auf dem Weg zur Fabrik 4.0 – so auch bei Philips Austria. Das liegt insbesondere daran, dass ihr Nutzen leicht ersichtlich ist. „Ein MES-System ist schön und zeigt tolle Grafiken und mehr. Ein AMR lässt sich aber viel besser personalisieren – deshalb tragen unsere Geräte ja auch Namen“, sagt Produktionsleiter Seufzer. Zudem könne ein AMR innerhalb von drei Stunden im Produktionsumfeld integriert werden.
Zeit und Gebinde gespart
Neben der dreiprozentigen Erhöhung der OEE der vollautomatischen Montagelinien durch automatisierte Versorgung hat das Projektteam von Philips noch weitere positive Auswirkungen festgestellt. So spart das Unternehmen durch den nun kontinuierlicheren Materialtransport bis zu 500 Gebinde. Betrug der sogenannte Work-in-Progress (WIP) zuvor mehrere Tage, konnte dieser durch die automatisierte kontinuierliche Materialversorgung auf wenige Stunden reduziert werden.
„Das ist ein enormer Vorteil, der sich nur schwer finanziell beurteilen lässt, aber dennoch vieles verbessert. Es verstaubt nichts mehr, und es ist jederzeit ein verlässlicher Überblick gewährleistet, falls etwa Qualitätsmängel auftreten sollten“, erklärt Seufzer. Dinge, die nicht der Spezifikation entsprechen, senden die AMRs umgehend zurück.
Autonome mobile Roboter sollen noch smarter werden
In einem nächsten Schritt sollen die AMR auch in den Produktionsprozess integriert werden. Das geschieht in Zusammenarbeit mit Omron-Partnern wie EM Technologies, der im beschriebenen Projekt involviert war. Neben Transportfunktionen übernimmt der mobile Roboter dann auch das selbständige Aktivieren von Anlagen, den Abschluss von Prozessschritten und das Buchen von Aufträgen über QR-Codes. Auch die vollautomatische Buchung im SAP-System ist geplant.
Der AMR kann selbständig mit der Maschine kommunizieren. Derzeit bedienen die AMR im Philips-Werk Klagenfurt bereits die Reinigungsmaschine, an der Verschmutzungen und Schleifstaub von den Schneidelementen entfernt werden. Künftig ist auch eine Kopplung von MES-System und AMR angedacht, sodass zum Beispiel im Vorfeld mitgeteilt werden kann, wenn ein Material zuneige geht. Mit dieser Information lässt sich künftig auch die Materialversorgung noch feiner steuern.
Jürgen Holzapfel-Epstein ist Business Development Manager Robotics bei Omron Industrial Automation.
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