14.07.2022 – Kategorie: Geschäftsstrategie

9 Ansätze zur Auflösung von Lieferketten-Störungen

Quelle: Getty Galery/Adobestock

Störungen in der Frachtschifffahrt aber auch anderswo haben in jüngster Zeit viele Probleme in Lieferketten erzeugt – was ist zu tun?

Es herrscht Stau: Auf den Schiffhandelsrouten und in den Frachthäfen. Seit Monaten leidet die Weltwirtschaft unter Lieferketten-Störungen infolge von Verzögerungen bei der Containerschifffahrt. Anfang Juni steckten laut dem Kieler Institut für Weltwirtschaft (IfW) mehr als elf Prozent aller weltweit verschifften Waren fest, da Schiffe nicht ent- und beladen werden konnten. Auch Deutschlands Industrie ist stark betroffen, denn der ehemalige Exportweltmeister ist mit eingeführten Waren im Wert von 1,42 Billionen Euro gleichzeitig laut Welthandelsorganisation drittgrößte Importnation. Der Weg vieler wichtiger Importwaren ist weit: Die Welt ist beispielsweise angewiesen auf Mikrochips aus Taiwan oder Rohstoffe und seltene Erden aus China – der mit Abstand wichtigste Handelspartner Deutschlands, wie die Zahlen des statistischen Bundesamts bestätigen. Hinzu kommen Abhängigkeiten von Russland bei Erdgas und Industriemetallen wie Aluminium, Platin und Palladium.

Selbst wenn sich die Lieferketten-Störungen allmählich auflösen, muss sich die Wirtschaft an einen neuen Status quo anpassen, der von Unsicherheit, Angebots- und Nachfrage-Schwankungen und komplexen wirtschaftlichen und politischen Rahmenbedingungen geprägt ist und uns möglicherweise auf Jahre begleiten wird. Wie können Industrieunternehmen kurzfristig darauf reagieren und sich mittel- und langfristig besser aufstellen?

Autoren: Patrick Vollmer, Senior Managing Director & Client Groups Lead (Products), Accenture und Michael Meyer, Managing Director & Supply Chain und Operations Lead DACH, Accenture.

Lieferketten-Störungen: Die Ursachen sind vielfältig und komplex

Vor den nächsten Schritten in die Zukunft werfen wir einen Blick zurück: Um wirksame Strategien für resilientere Lieferketten zu entwickeln, ist es wichtig, die verschiedenen Ursachen für die aktuellen Störungen zu kennen. Zu den offensichtlichen Einflussfaktoren zählen die Corona-Pandemie mit den einhergehenden Lockdowns sowie der Krieg in der Ukraine. Laut einer aktuellen Studie von Accenture kosteten Lieferkettenstörungen im Zusammenhang mit COVID-19 die Volkswirtschaften der Eurozone im Jahr 2021 rund 112,7 Milliarden Euro an verlorenem Bruttoinlandsprodukt (BIP). 2022 könnten Lieferkettenstörungen aufgrund des anhaltenden Krieges die Eurozone bis zu 318 Milliarden Euro kosten.

Hinzu kommen komplexe wirtschaftspolitische Rahmenbedingungen, etwa Wirtschaftssanktionen oder das Lieferkettengesetz, das 2023 in Kraft tritt. Letzteres verpflichtet Unternehmen, ihre Lieferketten zu durchleuchten und, wenn nötig, einzelne Elemente wie die Wahl der Lieferanten anzupassen, um ihre gesetzliche Sorgfaltspflicht in Bezug auf Menschenrechte und Umweltstandards zu erfüllen. Darüber hinaus gefährdet der zunehmende Protektionismus einiger Staaten den freien Handel. Vor dem diesjährigen G7-Gipfel in Elmau forderte die deutsche Wirtschaft aus diesem Grund mehr Engagement für offene Märkte.

Auch Umwelt- und Naturkatastrophen können die Lieferketten vorübergehend erheblich stören, beispielsweise Überflutungen oder Brände wie die verheerenden Buschfeuer von 2019/2020 in Australien, einem wichtigen Eisenerz- und Lithiumlieferanten.

Und schließlich verschärft die gestiegene Nachfrage nach bestimmten Gütern die Lage: Aufgrund der geltenden Klimaziele herrscht ein hoher Bedarf an Mikrochips, Batterien und Photovoltaik, die für den Ausbau der E-Mobilität und die Nutzung erneuerbarer Energien nötig sind. Die massive Nachfrage kann jedoch von den vorhandenen Fertigungsstellen nicht befriedigt werden. Auch Vorprodukte wie Lithium, seltene Erden oder Nickel sind hiervon betroffen. In Kombination mit Corona-Lockdowns und der Ukraine-Krise führte dies zu einer starken Angebotskrise mit Material-Engpässen und Lieferschwierigkeiten.

Acht von zehn Industriebetrieben sind von mittleren bis starken Lieferkettenproblemen betroffen

Die Folgen der Lieferkettenstörungen sind immens: Laut dem aktuellen DIHK-Lieferkettenbericht von Anfang 2022 beklagten zu Jahresbeginn, also noch vor Russlands Angriff auf die Ukraine, 84 Prozent der deutschen Industriebetriebe mittlere bis erhebliche Lieferschwierigkeiten . Zu den größten Problemen in der Industrie zählen laut DIHK:

•             Geringere Verfügbarkeit von Vorprodukten bzw. lange Wartezeiten (82 Prozent).

•             Steigende Kosten und damit Ertragseinbußen (80 Prozent).

Preissteigerungen bei Vorprodukten können nur teilweise an Kunden weitergegeben werden. Laut der Internationalen Energieagentur IEA war etwa das für E-Auto-Batterien wichtige Element Lithium im Mai dieses Jahres 600 Prozent teurer als Anfang 2021.

•             Höherer Planungsaufwand, um Lieferengpässe auszugleichen und Aufträge zu erfüllen (70 Prozent)

•             Auftragsstau, da bestehende Aufträge nicht abgearbeitet werden können (50 Prozent).

In der Industrie ist der Auftragsstau laut einer Ifo-Umfrage von April derzeit so groß wie nie: Deutsche Industrieunternehmen könnten demnach noch 4,5 Monate weiter produzieren, ohne einen einzigen neuen Auftrag. In der Automobilindustrie hat sich die Reichweite der unerledigten Aufträge gar auf 7,4 Monate erhöht, im Maschinenbau sind es 6,5 Monate (Ifo-Insitut).

•             Geringere Produktion oder vorübergehender Produktionsstopp aufgrund fehlender Vorprodukte und Rohstoffe (42 Prozent).

Viele Autohersteller vermelden aktuell für einzelne Modelle, insbesondere Elektroautos, Lieferzeiten von bis zu 12 Monaten und mehr oder nehmen teilweise gar keine neuen Aufträge mehr an.

Der Krieg in der Ukraine hat laut DIHK die Störungen in der Lieferkette und Logistik bei 60 Prozent der Unternehmen zusätzlich verschärft.

Wege aus der Krise: 9 Lösungsansätze, die Lieferketten resilient machen

Von Gesundheitskrisen, über geo- und wirtschaftspolitische Faktoren bis zu Umweltkatastrophen: Die Ursachen der Lieferkettenstörungen sind so vielfältig, komplex und unvorhersehbar wie nie. Um in dieser neuen unsicheren Welt zu bestehen und sich gegen künftige Störungen abzusichern, müssen Industrieunternehmen ihre Lieferketten radikal und von der Produktentwicklung an neudenken. Eine grundlegende Analyse sollte die Basis bilden, um Abhängigkeiten und andere Risikofaktoren zu erkennen. Anschließend können geeignete Maßnahmen ergriffen werden, um die Lieferkette kurz-, mittel- und langfristig resilienter zu machen.

Kurzfristige Maßnahmen

•             Bestände erhöhen: Die seit einigen Jahren etablierte Just-in-Time-Produktion auf Basis geringer Bestände und kleiner Lagerflächen funktioniert in Zeiten von Lieferschwierigkeiten nicht mehr. Wenn Rohstoffe und Vorprodukte weniger verfügbar sind und lange Lieferzeiten haben, sollten Unternehmen Material-Puffer anlegen, also höhere Bestände, um eingehende Aufträge zeitnah abarbeiten zu können. Dies erfordert größere Lagerflächen, kann jedoch verhindern, dass Kunden zu besser ausgestatteten Wettbewerbern abwandern.

•             Digitalisierung der Lieferkette: Diese Maßnahme ist aktuell wichtiger denn je und sollte spätestens jetzt von allen Unternehmen ergriffen werden. Die digitale Vernetzung der Lieferkette ermöglicht Echtzeit-Datenanalysen und sorgt damit für volle Transparenz. Mithilfe eines digitalen Zwillings kann zudem die komplette Lieferkette als virtuelle Kopie abgebildet werden. Dadurch können Unternehmen auftretende Probleme und potenzielle Risiken schneller erkennen oder simulieren – etwas das Fehlen eines Rohstoffs und dessen Auswirkungen – und vorausschauender planen sowie schnellere, daten- und regelbasierte Handlungen vornehmen.

Mittelfristige Maßnahmen

•             Portfolio-Vereinfachung und Standardisierung: Für Unternehmen, die mit vielen kritischen Rohstoffen und Vorprodukten arbeiten, lohnt sich eine Analyse mit dem Ziel, das Portfolio zu vereinfachen. Weniger rentable Produkte mit vielen kritischen Materialien werden dabei aussortiert. Gleichzeitig kann eine Standardisierung des Produktangebots mit Blick auf verfügbare Komponenten sinnvoll sein, da dies die Materialbeschaffung erleichtert.

•             Diversifizierung der Quellen (Multi-Sourcing): Da ein Ende der aktuellen Lieferkettenstörungen noch nicht absehbar ist und diese angesichts der vielfältigen Risikofaktoren auch künftig mitbedacht werden müssen, sollten Unternehmen ihre Bezugsquellen diversifizieren. Unter Abwägung von Kosten- und Umsatzgesichtspunkten sowie Risikofaktoren wie Standort und Verlässlichkeit können zusätzliche Lieferanten Alternativen für die Materialbeschaffung bieten. Wichtig ist hierbei jedoch den Unternehmensbereich der Produktentwicklung von Beginn an mit einzubeziehen. Dieser sollte die Werkstoffbeschaffenheit der Materialien alternativer Lieferanten prüfen, um gleichbleibende Material- und Produkteigenschaften und damit Qualität zu gewährleisten.

•             Substitution von Materialien: In vielen Fällen ist es möglich, nicht verfügbare Materialien durch andere zu ersetzen. So kann etwa Platin gegen Silber oder Palladium ausgetauscht werden, wenn dieses einfacher zu beschaffen ist. Auch diese Maßnahme muss jedoch in enger Zusammenarbeit mit der Produktentwicklung geschehen, um Produktmängeln vorzubeugen. Ein digitaler Zwilling des Produkts erlaubt es, das Produkt mit den substituierten Materialien zu testen und zu verbessern, bevor es in der Realität produziert wird.

•             Regionalisierung / Near-Shoring: Ein aktueller Trend, der zur Lösung beitragen kann, ist die Regionalisierung von Unternehmensaktivitäten. „Near-Shoring“ ist in diesem Zusammenhang das Stichwort, also die Auslagerung betrieblicher Aktivitäten ins nahe Ausland anstatt beispielsweise nach China. Nach dem Motto „aus der Region für die Region“ wird versucht, Material in den Regionen zu beschaffen, in denen es auch verarbeitet wird. So werden Wege kurzgehalten, was auch unter Nachhaltigkeitsgesichtspunkten sinnvoll ist, und Störungen in einem Teil der Welt wirken sich nicht mehr direkt auf das globale Geschäft aus. In diesem Zusammenhang empfiehlt es sich zudem, mit Partnern und Lieferanten über Produktionsmöglichkeiten an sowie Materiallieferungen von weniger betroffenen Standorten zu sprechen. Natürlich müssen dabei Umsatz, Kosten und Risiken abgewogen werden. Allerdings verlieren Kosten an Bedeutung, wenn regional gut aufgestellte Unternehmen dank ihrer höheren Resilienz einen Wettbewerbsvorteil erlangen.

Langfristige Maßnahmen

•             Parallel-Strukturen: Anknüpfend an den Regionalisierungstrend bildet der Aufbau einer Parallel-Struktur von Produktionsstätten eine effektive Möglichkeit, Unternehmen resilienter zu machen. Indem auf regionale Lieferanten zurückgegriffen und Produktionskapazitäten in mehreren strategisch wichtigen Regionen dupliziert werden, können Unternehmen eine höhere Versorgungs- und Umsatzsicherheit gewährleisten. Das dafür erforderliche hohe Anfangsinvestment sowie die höheren Betriebskosten – beispielsweise für teurere, regionale Materialien und Arbeitskräfte – zahlen sich jedoch in einer von Volatilität, Unsicherheit und komplexen Rahmenbedingungen geprägten Wirtschaft langfristig aus.

•             (Re-)Design: So wie inzwischen Nachhaltigkeit beim Produktdesign von Beginn an mitgedacht wird, sollten Unternehmen auch die Verfügbarkeit kritischer Rohstoffe und Vorprodukten bereits bei der Entwicklung berücksichtigen. Wird ein Produkt unter diesen Gesichtspunkten designt oder – als Reaktion auf Lieferketten-Störungen – redesignt, können Unternehmen die Auswirkungen von Lieferschwierigkeiten auf die Produktion drastisch reduzieren. Ein frappierendes Beispiel: Während ein Tesla-Fahrzeug mit einem einzigen zentralen Steuergerät auskommt, stecken in modernen Autos deutscher Premiumhersteller teilweise über 100 Steuergeräte – alle mit eigenen Mikrochips. Wem Lieferkettenstörungen bei Elektronikkomponenten mehr zu schaffen machen, ist hier unschwer zu erkennen. Auch beim Redesign ist ein digitaler Zwilling äußerst wertvoll, da er Entwicklern erlaubt, redesignte Produkte im virtuellen Raum zu testen, zu optimieren und schneller auf den Markt zu bringen.

•             Kreislaufwirtschaft: Um die Klimaziele zu erfüllen, muss sich die deutsche Industrie ohnehin um eine stärkere Kreislaufwirtschaft bemühen. Doch die aktuellen Lieferketten-Störungen könnten diese Entwicklung beschleunigen. Schließlich tragen Recycling, Aufbereitung und Wiederverwertung von Materialien dazu bei, dass weniger Rohstoffe benötigt werden. So machen sich Unternehmen unabhängiger von neu gewonnenen Werkstoffen, deren Verfügbarkeit unsicher ist, und können darüber hinaus Kosten reduzieren – besonders in Zeiten enormer Rohstoff-Preissteigerungen. BMW plant beispielsweise, bis 2030 den Anteil von wiederverwerteten Materialien in Autos von heute 30 auf 50 Prozent zu erhöhen.

Weniger Effizienz, dafür mehr Resilienz in Lieferketten: Warum ist das nötig?

Nach zweieinhalb Jahren Lieferketten-Störungen ist eines klar: Ein „weiter so wie bisher“ kann sich die Industrie nicht mehr leisten, denn sie wird die vielfältigen Risikofaktoren von Gesundheitskrisen bis zu geopolitischen und wirtschaftlichen Faktoren auch langfristig nicht kontrollieren können.

Ein Umdenken in der Produktentwicklung, Materialbeschaffung und Produktion ist zwingend nötig. Die einzelnen Unternehmensbereiche müssen dazu eng zusammenarbeiten, um effektive Maßnahmen ergreifen zu können. Bei vielen Lösungsansätzen bedeutet dies einen Verzicht auf Synergien und Effizienz zum Zweck der Resilienz. Die Notwendigkeit, neue Wege zu gehen, bietet gleichzeitig jedoch Chancen für Innovationen und die weitere Digitalisierung der Industrie. Neue Partnerschaften werden entstehen, in den Bereichen Fabrikautomatisierung und Industriesoftware wird es neue Wachstumsimpulse geben.

Und auch die Politik kann ihren Teil zu einer resilienteren Wirtschaft beitragen. Die vergangenen zweieinhalb Jahre haben stellenweise bereits aufgezeigt, welche Produkte im eigenen Land oder in der EU hergestellt werden sollten, um Lieferengpässe zu vermeiden – etwa Medikamente. Eine Analyse und strategische Definition kritischer Produkte sowie der gezielte Aufbau der entsprechenden Industrien könnten ein Ansatz sein.

Autoren

Patrick Vollmer, Senior Managing Director & Client Groups Lead (Products), Accenture

Michael Meyer, Managing Director & Supply Chain und Operations Lead DACH, Accenture

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